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Die Hölle: Dreiunddreißigster Gesang
   

Inhalt: "Göttliche Komödie"


IX. Kreis. 2. u. 3. Antenora und Ptolemäa. Vaterlands- und Freundes-Verräther.

Den Mund erhob vom schaudervollen Schmaus

Der Sünder jetzt und wischt ihn mit den Locken

Des angefressnen Hinterkopfes aus.

Er sprach: "Du willst zum Reden mich verlocken?

Verzweiflungsvollen Schmerz soll ich erneun,

Bei des Erinnrung schon die Pulse stocken?

Doch dient mein Wort, um Saaten auszustreun,

Die Frucht der Schande dem Verräter bringen,

Nicht Reden werd ich dann noch Tränen scheun.

Zwar, wer du bist, wie dir hierherzudringen

Gelungen, weiß ich nicht, doch schien vorhin

Wie Florentiner Laut dein Wort zu klingen.

Du höre jetzt: Ich war Graf Ugolin,

Erzbischof Roger er, den ich zerbissen.

Nun horch, warum ich solch ein Nachbar bin.

Daß er die Freiheit tückisch mir entrissen,

Als er durch Arglist mein Vertraun betört,

Und mich getötet hat, das wirst du wissen.

Vernimm darum, was du noch nicht gehört,

Noch haben kannst—den Tod voll Graus und Schauer,

Und fass es, wie sich noch mein Herz empört.

Ein enges Loch in des Verlieses Mauer,

Durch mich benannt vom Hunger, wo gewiß

Man manchen noch verschließt zu bittrer Trauer,

Es zeigte kaum nach nächtger Finsternis

Das erste Zwielicht, als ein Traum voll Grauen

Der dunkeln Zukunft Schleier mir zerriß.

Er jagt, als Herr und Meister, durch die Auen

Den Wolf und seine Brut zum Berg hinaus,

Der Pisa hindert, Lucca zu erschauen.

Mit Hunden, mager, gierig und zum Strauß

Wohleingeübt, entsendet er Sismunden,

Lanfranken samt Gualanden sich voraus.

Bald schien im Lauf des Wolfes Kraft geschwunden

Und seiner Jungen Kraft, und bis zum Tod

Sah ich von scharfen Zähnen sie verwunden.

Als ich erwacht im ersten Morgenrot,

Da jammerten, halb schlafend noch, die Meinen,

Die bei mir waren, und verlangten Brot.

Teilst du nicht meinen Schmerz, so teilst du keinen,

Und denkst du, was mein Herz mir kundgetan,

Und weinest nicht, wann pflegst du denn zu weinen?

Schon wachten sie, die Stunde naht heran,

Wo man uns sonst die Speise bracht, und jeden

Weht ob des Traumes Unglücksahndung an.

Verriegeln hört ich unter mir den öden,

Graunvollen Turm—und ins Gesicht sah ich

Den Kindern allen, ohn ein Wort zu reden.

Ich weinte nicht. So starrt ich innerlich,

Sie weinten, und mein Anselmuccio fragte:

Du blickst so,—Vater! Ach, was hast du? Sprich!

Doch weint ich nicht, und diesen Tag lang sagte

Ich nichts und nichts die Nacht, bis abermal

Des Morgens Licht der Welt im Osten tagte.

Als in mein jammervoll Verlies sein Strahl

Ein wenig fiel, da schien es mir, ich fände

Auf vier Gesichtern meins und meine Qual.

Ich biß vor Jammer mich in beide Hände,

Und jene, wähnend, daß ich es aus Gier

Nach Speise tat, erhoben sich behende

Und schrien: Iß uns, und minder leiden wir!

Wie wir von dir die arme Hüll erhalten,

Oh, so entkleid uns, Vater, auch von ihr.

Da sucht ich ihrethalb mich still zu halten;

Stumm blieben wir den Tag, den andern noch.

Und du, o Erde, konntest dich nicht spalten?

Als wir den vierten Tag erreicht, da kroch

Mein Gaddo zu mir hin mit leisem Flehen:

Was hilfst du nicht? Mein Vater, hilf mir doch!

Dort starb er—und so hab ich sie gesehen,

Wie du mich siehst, am fünften, sechsten Tag,

Jetzt den, jetzt den hinsinken und vergehen.

Schon blind, tappt ich dahin, wo jeder lag,

Rief sie drei Tage, seit ihr Blick gebrochen,

Bis Hunger tat, was Kummer nicht vermag."

Und scheelen Blickes fiel er, dies gesprochen,

Den Schädel an, den er zerriß, zerbrach,

Mit Zähnen, wie des Hundes, stark für Knochen.

Pisa, du, des schönen Landes Schmach,

In dem das Si erklingt mit süßem Tone,

Sieht träg dein Nachbar deinen Freveln nach,

So schwimme her, Capraja und Gorgone,

Des Arno Mund zu stopfen, daß die Flut

Dich ganz ersäuf und keiner Seele schone.

Denn, wenn auch Ugolinos Frevelmut,

Wie man gesagt, die Schlösser dir verraten,

Was schlachtete die Kinder deine Wut?

Oh neues Theben, war an solchen Taten

Nicht ohne Schuld das zarte Knabenpaar,

Das ich genannt? nicht Hugo samt Brigaten?—

Wir gingen nun zu einer andern Schar,

Die, statt wie jene, sich hinabzukehren,

Das Antlitz aufwärts, eingefroren war.

Die Zähren selber hemmen hier die Zähren,

Drum wälzt der Schmerz, der nicht nach außen kann,

Sich ganz nach innen, um die Angst zu mehren.

Denn, was zuerst dem trüben Aug entrann,

Das war zum Klumpen von Kristall verdichtet

Und füllte ganz die Augenhöhlen an.

Und ob vom Frost, der solches Eis geschichtet,

Mein Antlitz wie bedeckt mit Schwielen schien,

Und deshalb jegliches Gefühl vernichtet,

Doch fühlt ich, schiens mir Luft entgegenziehn,

Drum sprach ich: "Herr, wie mag hier Luft sich regen,

Wo nie die Sonne, dunstentwickelnd, schien?"

Und er: "Du gehst der Antwort schnell entgegen

Und siehst, wenn wir noch weiter fortgereist,

Aus welchem Grund die Lüfte sich bewegen."

Da rief ein eisumstarrter armer Geist:

"Grausame Seelen, ihr, die jetzt vom Lichte

Zu dieser letzten Stelle Minos weist,

Hebt mir den harten Schleier vom Gesichte,

Damit ich lüfte meines Herzens Wehn,

Eh neu die Träne sich zu Eis verdichte."

Ich sprach: "Soll dirs nach deinem Wunsch geschehn,

So nenne dich, und wenn ichs nicht erzeige,

So will ich selbst zum Grund des Eises gehn."

Drauf er: "Ich bins, der Frucht vom bösen Zweige

Als Bruder Alberich dort angeschafft,

Und speise hier die Dattel für die Feige."

"Oh," rief ich, "hat der Tod dich hingerafft?"

Und er zu mir: "Ob noch mein Leib am Leben,

Davon bekam ich keine Wissenschaft.

Denn Ptolommäa hat den Vorzug eben,

Daß oft die Seele stürzt in dies Gebiet,

Eh ihr den Anstoß Atropos gegeben.

Und daß du lieber mir vom Augenlid

Verglaste Tränen nehmest sollst du wissen:

Sobald die Seele den Verrat vollzieht,

Wie ich getan, wird ihr der Leib entrissen

Von einem Teufel, der dann drin regiert

Bis an den Tod, indes in Finsternissen

Des kalten Brunnens sie sich selbst verliert.

Vielleicht ist oben noch der Körper dessen,

Der hinter mir in diesem Eise friert.

Kommst du von dort, so magst dus selbst ermessen.

Herr Branca dOria ists, der jämmerlich

Schon manches Jahr im Eise fest gesessen."

"Ich glaube," Sprach ich, "du betrügest mich,

Denn Branca dOria ist noch nicht begraben

Und ißt und trinkt und schläft und kleidet sich."

Und er darauf: "Es konnte jenen Graben,

An dem beim Pech die Schar von Teufeln wacht,

Noch nicht erreicht Herr Michel Zanche haben,

Da war sein Leib schon in des Dämons Macht.

So gings auch dem von dOrias Geschlechte,

Der den Verrat zugleich mit ihm vollbracht.

Jetzt aber strecke zu mir her die Rechte

Und nimm das Eis hinweg!—doch tat ichs nicht,

Denn gegen ihn war Schlechtsein nur das Rechte.

Genua, Feindin jeder Sitt und Pflicht,

Ihr Genueser, jeder Schuld Genossen,

Was tilgt euch nicht des Himmels Strafgericht?

Ich fand mit der Romagna schlimmsten Sprossen

Der euren einen, für sein Tun belohnt,

Die Seel in des Kozytus Eis verschlossen,

Des Leib bei euch noch scheinbar lebend wohnt.




Inhalt: "Göttliche Komödie"

Download: "Göttliche Komödie"

Quelle: http://www.gutenberg.org/cache/epub/8085/pg8085.txt

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